Im Elektrischen Reporter Nr. 18 bezeichnet Peter Glaser die Art, wie wir im Internet kommunizieren und Informationen sammeln als Informationscubismus. Ein Gegenstand der Betrachtung wird von vielen Perspektiven aus gleichzeitig wahrgenommen, es entsteht ein Bild aus Scherben, und der geneigte Leser muß sich selbst seinen Reim drauf machen. Wie schön, und wie zeitaufwendig.
Der Gegenstand ist hier nicht psysikalisch manifest, sondern ein gedanklich geknüpfter Sack von Zusammenhängen, Thema genannt. Vielleicht entdeckt so mancher Informationssammler, daß dieser Sack immer nur mühsam geschnürt ist und bei näherem Hinsehen nichts als ein weiteres Sammelsurium an zu Themen gebundenen Zusammenhängen offenbart. Der Sammler kauft sich (in SL) einen größeren Sack oder flüchtet zurück zur Pantoffel und zur nächsten Episode des Elektrischen Reporters.
Leider muss ich feststellen, dass ich beim Informatiossammeln immer öfter aus reiner Faulheit bei Wikipedia lande. Das ist ein harmlos aussehender Sack (Glaser nennt das Käfig), in dem ich dann stecke, im vollen Bewusstsein, nur eine Scherbe des cubistischen Ganzen zu betrachten. Wie Du schon sagst, ist die Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln sehr zeitaufwändig (mit ä). Diesmal muss ich aber was positives vermelden: War unsere Scherbensammlung bislang doch eher unvollständig, bestehend aus Zeitungs-, Radio-, TV- und Bibliotheksscherben, so ist der Blickwinkel jetzt doch umfassender geworden, denn ich kann, ich muss meinen Blick nicht einschränken. Dass die ‚Wahrheit‘ dabei verschwimmt, ist wohl eher eine Eigenschaft der Wahrheit, weniger eine des Mediums. Es steht also ein Mc Luhanscher Paradigmenwechsel Richtung Heisenberg an. Das Medium ist nicht mehr die Message, das Medium verändert die Message. Und bringt uns damit näher an das wirkliche Leben: Wahr ist, was Du siehst. Wenn du genau hinsiehst.
Das das Medium die message verändert kann ich nur bestätigen. Als oftmals hinter der Kamera Stehender kann ich vermelden, die Berichterstattung verändert das Ereignis. Der Fernsehzuschauer erlebt die Illusion des Dabeiseins, die Teilnehmer merken, daß die Kamera wichtiger ist als sie. In jedem Fall verhalten sich die Menschen anders als wenn die Kamera aus ist.
Vorgestern saß ich mit einem Soziologen in einer Pizzeria. Der Wirt kam zu uns und erzählte aus seinem Leben. Er war sechs Jahre in der Schule, ist ein Analphabet geblieben. Später fing er an zu lesen, am liebsten ist ihm Bertrand Russell. Eine Pizza auf seiner Karte heißt „Russell B.“. Wenn seine Angestellten ihn fragen, was das bedeutet, sagt er, das wisse er nicht, er sei besoffen gewesen, als er die Karte geschrieben hat.
Sein Leben lang, sagt er, sei er hinter der Wahrheit her gewesen, gefunden habe er nichts. Was hat es ihm genützt? Er ist zu dem Schluß gekommen, hätte er die Frage nicht gestellt, wäre er nie auf die Suche gegangen. Und an die Suche hat er viele angenehme Erinnerungen.
Sagt der Soziologe, er sei 1966 extra für ein Semester zum studieren nach Harward gegangen, um Bertrand Russell live in einer Vorlesung zu hören. Alle hingen an seinen Lippen, eigentlich hat er nur Anekdoten erzählt, und zur Wahrheit diesen Satz: „Die Wahrheit ist ein Konzept.“
Ich sage, ich versuche, das Wörtchen Wahrheit zu vermeiden, und sollte auch in Zukunft vielleicht lieber von lose gebundenen Säcken sprechen. Das ist die Richtung, in der mich irgendwann dann niemand mehr versteht, falls ich es versäume, ein Buch darüber zu schreiben oder wir nicht viel mehr Leute auf dieser Seite versammeln können. Von Bertrand Russell weiß ich gar nichts.