Filmkritik: Jim Jarmusch – Paterson (2016)

Vielleicht sollte man so beginnen, über Paterson zu sprechen: Jim Jarmusch zeigt einen ganz normalen US-amerikanischen Arbeitsalltag in einer ganz normalen Kleinstadt namens Paterson. Der Protagonist, der den Namen seiner Heimatstadt trägt, ist Busfahrer und wohnt in einem kleinen Vorstadthäuschen aus Holz, seine Frau liebt ihn und umsorgt das Heim: ganz normale Durchschnittsmenschen, möchte man meinen. Schöner Kitsch? Jim Jarmusch idealisiert dies Bild und irritiert es zugleich auf subtile Weise. Unverkennbar wird der Verlauf eines stabilen und gleichförmigen Alltags, dessen Dramaturgie nur kleine Probleme, Dramen oder Höhepunkte kennt, so detailliert ausgebreitet, dass er beinahe epische erscheint. Dies ist ein für Jim Jarmusch typischer Erzählstil, ebenso die gleichmäßige, wiederholungsorientierte Strukturierung: Der Film zeigt das Leben im Verlauf einer Woche von Montag bis zum folgenden Montag. Die Tagesabläufe strukturieren den Film: Sie beginnen jeweils mit der gleichen Einstellung von Patersons Bett kurz vor dem morgendlichen erwachen und enden abends in der Kneipe. Die Großform erzählt von der Gleichförmigkeit des Lebens. Alle Personen in dem Film sind sympathisch, es gibt keinen Bösewicht (gibt es in Jarmusch-Filmen ja sowieso nicht). Fast niemand ist weiß. Und das ist eine der subtilen Irritationen: das ideale Arbeiterleben wird ganz selbstverständlich von Menschen undefinierbarer bis schwarz-afrikanischer Herkunft gelebt. Der in den USA in der letzten Zeit wieder angeheizte Rassenkonflikt ist präsent, indem er abwesend ist: In Jim Jarmuschs Film ist er überwunden, weil ist kein Thema mehr ist.

Adam Driver als Paterson



Zugleich sind die meisten Protagonisten kulturinteressiert oder produzieren Kultur: Paterson dichtet, seine Frau bemalt Wände, Gegenstände und Gebäck mit schwarz-weißen Strukturen. Der Wirt und manche Gäste in seinem Bus kennen sich mit der Geschichte der Stadt Paterson und vor allem den berühmten Kulturpersönlichkeiten, die sie hervorgebracht hat, gut aus. Der schwarze Besitzer eines heruntergekommenen Waschsalons rappt, und die ebenfalls schwarzen Gangmitglieder kennen sich mit exotischen Hunderassen gut aus. Allen voran und das legendäre Zentrum, um das der Film kreist: der Dichter William Carlos Williams (1883-1963), im Hauptberuf Arzt, der der Stadt ein episches Gedicht in fünf Bänden widmete.
Zum Wochenende hin spitzt sich das Drama zu: Am Freitag bleibt Patersons Bus liegen, am Samstag zerbeißt Marvin, der Hund seiner Frau, das Notizbuch mit all seinen Gedichten. Paterson ist am Boden zerstört. Erst eine Zufallsbegegnung mit einem japanischen Touristen beendet seine Krise. Paterson sieht sich als Busfahrer und nicht als Dichter, der Tourist macht ihm klar, dass die meisten berühmten Dichter eine Arbeit hatten, mit der sie Geld verdienten. Zum Abschied schenkt er Paterson ein neues Notizbuch.
Wenn es nicht das Geld ist, dass die Künstlerrolle definiert, wie das bei Berufen normalerweise der Fall ist, was ist es dann? Ist es die Anerkennung durch Andere, oder ist es das eigene Selbstverständnis? Paterson sieht sich nicht als Dichter, und er weigert sich, seine Gedichte zu veröffentlichen oder auch nur ausgewählten Personen zu geben, aber als der Hund sein Notizbuch zerreist, bricht seine Welt zusammen. In der Krise merkt er, wie wichtig ihm das dichten ist. Er gelangt wieder ins Lot mit dem Moment, wo er den Titel eines neuen Gedichts in sein Notizbuch schreibt. Der Film lässt sich auch als Allegorie lesen: der Busfahrer Paterson verkörpert den Gleichlauf des Lebens in einer US-amerikanischen Kleinstadt, den Alltag, den Williams auf liebevolle und repektvolle Weise in seinen Gedichten beschreibt.
In seiner visuelle Anlage wirkt der Film zeitlos: über Fernseher, Computer und Mobiltelefone wird gesprochen, sie sind allerdings kaum zu sehen. Auf visueller Ebene ist vieles alt: die Häuser, die Fabriken, die Innenstadt, der Bus, den Paterson fährt, seine altmodische Uniform. Oder besser: es wirkt nicht alt, sondern zeitlos. Wie aus der Zeit gefallen. Diese visuelle Unbestimmtheit unterstützt eine allegorische Lesart des Films. Die Figuren werden zu Idealtypen des US-amerikanischen Normalbürgers als kulturtragende Menschen. In dieser idealen Welt reicht das Einkommen für einen bescheidenen Wohlstand aus, die Herkunft der Menschen spielt keine Rolle, Kunst und Kultur sind Teil des Alltags und das Gerüst einer gemeinsamen Realität.
Seit seinem vorletzten Film The Limits Of Control scheint Jim Jarmusch sich die Frage zu stellen, was leistet Kultur? Oder anders, seit The Limits… sind seine Filme Versionen einer Antwort auf diese Frage. In The Limits Of Control ist es eine Verschwörung von kulturliebenden Menschen, die der Diktatur eines US-amerikanischen Überwachungsstaates die Stirn bietet. Auch in jenem Film sind die Charaktäre Idealtypen, in einer sich spiralartig vorwärtsbewegenden Erzählung treten Liebhaber verschiedener Künste auf: Malerei, Musik, psychedelische Drogen und natürlich: Film. Die Künste sind die Wurzel, aus der die Liebhaber das Unrecht erkennen und die Motivation gewinnen, den Kampf dagegen organisieren. Das Ästhetische schlägt in diesem Killer-Märchen ins Politische um, sobald die Politik sich von der Kultur abwendet. Ein zugegebenermaßen gewagtes Bild, das verständlicher wird, wenn man es als Reaktion auf die Regierungspraxis von George W. Bush erkennt. Welcher andere US-amerikanische Künstler ist währende dessen Amtszeit soweit gegangen, die Ermordung eines US-amerikanischen Geheimdienstfunktionärs als wünschenswert und positiv darzustellen?
In seinem letzten Film schlägt er bescheidenere Töne an: In Only Lovers left Alive ist es die Kultur, die drei jahrhundertealte Vampire davor bewahrt, an den Schwächen und Fehlern der Menschen zu verzweifeln. Jetzt, in Paterson, kehrt Jim Jarmusch zum allegorischen Erzählen zurück: diesmal jedoch ist es die Kultur, die den Alltag und den Umgang der Menschen miteinander liebenswert macht und Gemeinschaft stiftet. Man mag das als ein „Märchenland der Bohéme“ kritisieren, wie es Jake Wilson in seiner sehr lesenswerten Besprechung tut, dabei ist es eine Stärke des Mediums Film, alternative Welten plastisch mitvollziehbar zu machen. Hier ist es eben keine Fantasy oder Science Fiction in fremden Welten, sondern eine andere Art, den Alltag in der westlichen Welt zu leben.
Was ich an Jim Jarmusch absolut beeindruckend finde, ist, wie beiläufig er bestimmte Werte und Positionen in seine Filme einträgt. Er schätzt die Form, er arbeitet manchmal beinahe abstrakt, aber immer trägt die Form die Inhalte, nie ist sie Selbstzweck. Die leicht erschließbaren Inhalte leiden darunter womöglich: manches wirkt pädagogisch, beinahe platt, einige Dialoge ähneln Lexika-Einträgen. Anderes ist präsent, weil es eben nicht thematisiert wird. In den Auslassungen und als selbstverständlich inszenierten Setzungen steckt momentan die die größte Erzählkunst von Jarmusch.

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