Heute morgen machte ich in der Bahnhofsbuchhandlung in Osnabrück in dem Regelmeter für Musikzeitschriften folgendes Foto:
Wie man sehen kann, dominieren Rock und Gothic Zeitschriften das Bild. Sieht man genauer hin, entdeckt man eine gewichtige Fraktion: 5 von 10 in der ersten Reihe ausgestellten Magazinen widmen sich vergangener, nicht aktueller Rockmusik. Und auch die aktuell ausgerichteten Hefte haben klassische Themen mit dabei. Der musikexpress beinhaltet ein Jimi Hendrix Special und das Rock Hard widmet sich unter anderem Judas Priest und Laibach.
Was geht hier vor? Ist dies die Rache der Baby Boomer? Ich habe einige Hypothesen zu diesem verstörenden Bild aufgestellt.
1. Osnabrück ist eine Hochburg der ehemals progressiven Rockmusikfans. Nirgendwo sonst ist die Dichte an Revivalparties so hoch, sieht man grau- und silberhaarige Menschen so häufig begeistert zur Musik ihrer Jugend tanzen. Da Osnabrück zudem noch Eisenbahn- und Autobahnknotenpunkt ist, wird bereits der Bau einer Halle für das Queen-Musical „We will rock you!“ auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs geplant.
2. Nur noch Männer über 50 kaufen Musikmagazine. Für sie war Musik einmal wirklich wichtig. Heute haben sie das nötige Kleingeld, um Spezialmagazine und limitierte Sondereditionen der alten Alben zu kaufen, deren Original Vinyl irgendwo im Keller stehen. Manchmal besuchen sie auch ein Reunion Konzert (so hiess das in den Neunzigern) oder die Liveaufführung bestimmter legendärer Alben (das ist grad der aktuelle Trend). Der Markt passt sich an; alte Rockmusik kommt nach vorne, Techno und Hip Hop verschwinden mittelfristig aus den Regalen.
3. Die Musikindustrie hat festgestellt, dass die CD Musik enthält. Pardon, nein, sie hat festgestellt, dass nur noch Männer über 40 CDs kaufen und ebenso einen beachtlichen Anteil der Digitalkäufer stellen. Als wichtige Vermarktungsstrategie für die kommenden 20 Jahre wurde daher festgelegt, diese Bevölkerungsgruppe verstärkt zum Kauf von Musik zu animieren. Dies soll unter anderem dadurch geschehen, dass ihre Hörgewohnheiten kulturell aufgewertet werden. In den Feuilletons ist ihre Musik sowieso präsent, weil die jetzt amtierenden Chefredakteure in ihrer Jugend durch sie geprägt wurden. Was jetzt noch gebraucht wird, ist vermehrte, deutlich sichtbare Präsenz, um auch die nicht ganz so Intellektuellen in der Zielgruppe zu erreichen und einer Mehrzahl potentieller Käufer zu suggerieren: es ist voll in Ordnung, nein, mehr noch, super cool, sich mit der alten Musik der eigenen Jugend zu beschäftigen. Ganz klar war das sowieo die Zeit der besten Musik.
4. Rockmusik ist Vergangenheit. Was wir hier sehen, ist die wichtige Phase einer Festigung und Bestätigung eines Kanons, der, ähnlich wie in der Wiener Klassik, die nächsten 100 oder 200 Jahre lang Gültigkeit beanspruchen kann; als Bezugspunkt einer Gesellschaft, die von populärer Kultur durchdrungen ist. Die prägende Phase der Durchsetzung der Popkultur waren die 1960er und 1970er Jahre, Rockmusik war ihr wesentliches Vehikel. Diese Musik ist nun Gegenstand der Glorifizierung, um ihren Platz im Referenzsystem zu festigen, dass die Kultur des 21. Jahrhunderts rahmt.