Sun Ra und die Verkörperung des Weltalls

Laudatio anlässlich des 100. Geburtstags von Sun Ra, 22.05.2014, Big Buttinsky, Osnabrück.
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Holger Schwetter während des Vortrags im Big Buttinsky.

Sun Ra´s Outer-Space-Metaphorik erscheint zunächst abgehoben und ohne großen Zusammenhang mit sozialer Realität, Politik oder Gesellschaft. Die Bezüge sind jedoch vielfältig und erscheinen zunächst ironisch gebrochen. So heisst es in dem Song ‚Outerspaceways Incorporated‘: „If you find earth boring, just the same old same thing, you better sign up with outerspaceways incorporated.“ Es gibt die Möglichkeit eines Übergangs, eines Mitwirkens.

In dem Film „Space is the Place“, den wir gerade gesehen haben, unterhält die Firma „Outerspaceways Incorporated“ ein Rekrutierungsbüro. Dort kann man anheuern, aber nur wenige Auserwählte werden genommen. Der Firmenname ist ein Beispiel von Sun Ra´s allgegenwärtiger Sprachspielerei und gibt einen Hinweis darauf, wie die Rekrutierung außerhalb des Films funktioniert. Die Firma ist keine Corporation, keine körperlose juristische Körperschaft, sondern, im Gegenteil, sie ist incorporated, inkorporiert und verinnerlicht, sie wird von Individuen verkörpert. Hierzu gilt es, die äußeren Himmelswege im eigenen Körper verankern; wenn man das tut, wird man scheinbar Angestellter oder besser Mitglied, denn eine Bezahlung ist selbstverständlich nicht vorgesehen. Geld besitzt dort keine Bedeutung.
Doch was soll all die Mystik, wozu die endlose Weltraum-Rhetorik, die hermetisch – geheimnisvolle Wortverdrehung und die eklektizistische Aneignung juristischer, altägyptischer und anderer magischer Symbole? Um das zu klären, schauen wir zunächst, aus welchen Traditionen Sun Ra seine ästhetischen Strategien entwickelt.
Eine Strategie der afro-amerikanischen Kulturen in den USA, mit Sprache umzugehen, die in musikalischer Praxis sichtbar wird ist das sogenannte Signifying. Diese Strategie entstand zur Zeit der Sklaverei. Hierbei werden Songtexte doppelt oder sogar mehrfach kodiert. Die Texte werden so gestaltet, dass sie mindestens zwei Bedeutungen gleichzeitig tragen. Die erste Ebene der Grundbedeutung des Textes klingt harmlos, sie ist für die weißen Unterdrücker da und signalisiert ihnen: dieser Text ist gottesfürchtig oder harmlos, vielleicht naiv oder sogar bescheuert, aber auf gar keinen Fall kritisch, subversiv oder für die herrschende Ordnung gefährlich. Die zweite Textebene richtet sich an die Hörer, die die Kultur der Sänger teilen und für die die Musik gemacht ist. Sie wird mit einer Vielzahl literarischer Mittel hergestellt und transportiert die Inhalte, um die es den Sängern wirklich geht.
Im Fall des Gospels ist dieser Adressat die schwarze Gemeinde. Einer der berühmtesten Gospels aus der Zeit der Sklaverei, „Go down, Moses“, ist ein gutes Beispiel für die Strategie des Signifying, umgesetzt hier als eine Konnotation, eine Sinnübertragung des Textinhalts: „Go down, Moses, way down in Egypt land. Tell Ol Pharao, to let my people go.“ Die schwarzen Gemeinden in der Sklaverei beziehen die alttestamentarische Geschichte vom Auszug des israelischen Volkes aus der Sklaverei auf ihre eigene Situation. Der Pharao, das sind ihre Sklaventreiber, sie werden aufgefordert: lass unsere Leute ziehn! Von außen betrachtet sieht man eine schwarze Gemeinde beim Gotteslob.
Dass derartig offensichtliche Doppelkodierungen nicht auffielen, liefert einen Hinweis darauf, wie weit die kulturellen Lebenswelten durch die Rassentrennung voneinander entfernt waren. Die Doppelkodierung funktioniert gut und wird zu einem festen Bestandteil afro-amerikanischer Musikkulturen, die sich immer unter Beobachtung der herrschenden weißen Kultur sehen. Die Technik funktioniert beispielsweise auch gut, um in der prüden US-amerikanischen Kultur sexuelle Themen zu transportieren. Stilbezeichnungen wie Boogie Woogie oder Rock´n´Roll entstehen aus harmlos klingenden Wortspielen in Songtexten, die sexuelle Vergnügungen beschreiben. Elvis trägt die Botschaften ins weiße Amerika, diese bemerkt die Körperbetonung der Musik und wird davon sehr beunruhigt, aber die Wortspiele verstehen die meisten nicht. Ihre zweite Bedeutung wird von den Afroamerikanern gewohnheitsgemäß nur in Ausnahmefällen an Weiße kommuniziert.
Sun Ra wird 1914 geboren und wächst in einer der rassistischsten Gegenden der USA auf, in Birmingham, Alabama. Er erlebt die Rassentrennung und verinnerlicht die afroamerikanischen Überlebensstrategien. Sun Ra´s Outer Space Metaphorik steht eindeutig in dieser Tradition und das Signifying gehört zu seinem Überlebenswerkszeug. Im gerade gezeigten Film „Space is the Place“ erklärt er selbst einer Gruppe schwarzer Jugendlicher in einem Jugendclub, wie seine Version des Signifying funktioniert.
„How do you know I´m real? I´m not real. I am like you. You don´t exist in this society.“ Die Außerirdischen, das sind für ihn die Afroamerikaner, und der Planet weit weg, in Outer Space, das ist die Nation, in der sie herrschen. Die Sehnsucht nach dem Weltall transportiert die Sehnsucht nach einer afroamerikanischen Gesellschaft, aber nur für die Eingeweihten, die die Kodierung kennen. Für die anderen ist er ein Spinner, ein Freak unter den Freaks.
Die doppelte Kodierung birgt für Sun Ra Vorteil und Nachteil zugleich. Einerseits bewahrt sie ihn auch in Zeiten von Bürgerrechtsbewegung, rassistischen Attentaten und den Black Panthern vor Verfolgung und Repression, andererseits bleibt er immer ein Außenseiter. Seine politische Vision bleibt wie geplant verborgen, die Revolution findet selbstverständlich nicht statt. Doch Sun Ra erringt einen wesentlichen Erfolg. Als Freakigster unter den Freaks gelingt es ihm, eine eigene musikalische Nische zu kreieren. Über Jahrzehnte hinweg unterhält er seine Big Band, das Arkestra, ohne kommerzielle Erfolge und teilweise unter widrigsten Bedingungen. Er erbaut ein eigenes musikalisches Universum. Dies ist handwerklich grundsolide bis höchst avantgardistisch in die Jazz-Tradition eingebunden. Mit Big Band und Musikelektronik schafft er klanglich und emotional einen ganz eigenen Ausdruck. Die Metaphorik des Outer Space korrespondiert mit einer Musik, die im besten Sinne far out ist, ohne drogeninduziert zu sein. Sie bezieht sich nicht auf das herrschende System, ist weder affirmativ noch kritisch. Sun Ra sagt, der Erde ginge es schlecht, weil die Musiker dazu gezwungen werden, die falsche Musik zu spielen. Da auch die Kritik untrennbar mit dem System verbunden ist und den Blick nicht von ihm wenden kann, verzichtet Sun Ra auf derlei Bezüge.
Er sucht sein Heil woanders und das Entscheidende ist, Sun Ra´s Outer-Space-Philosophie wird musikalisch produktiv. Er schafft Emotionen, die sich nicht auf die momentane Herrschaft beziehen. Sun Ra begnügt sich nicht mit der Klage des Blues oder der Melancolie des Jazz. Er sucht nach Alternativen und findet ein positives, energiereiches Klangbild. Er euphorisiert seine Musiker und ihre Musik euphorisiert uns. Diese Musik zeigt uns, was möglich ist im Outer Space, was der Mensch sein könnte, wenn er die Schemata der Unterdrückung verliesse, und das nicht als Utopie, sondern als realisierter Klang. Der englische Musiksoziologe Simon Frith schreibt „Music gives us a real experience of what the ideal should be.“ Diese Chance, eine Idee in Musik zu realisieren und nicht bloß zu beschreiben oder darzustellen sieht Sun Ra und er treibt sie ins Extrem.
Sun Ra´s Afro-Space-Mystizismus liefert die Utopie einer menschenwürdigen Gesellschaft der Aliens als der ehemals Ausgestossenen, sein Orchester, das Arkestra verkörpert sie mit der Musik im Prozess des Musikmachens und darüber hinaus. Wieder betreibt Sun Ra hier das Signifying als Sprachspiel der Marginalisierten. Arkestra, so klingt es, wenn das Wort Orchester mit Südstaatenakzent ausgesprochen wird, und zugleich ist es die Ark, die Arche, das rettende Schiff für Sun Ra. So jedenfalls beschreibt es Klaus Walter in der taz.3 Ebenso kann es auch als Wortspiel mit Arcanum, dem Geheimnis in mystischen Lehren oder den Arkana, den Karten des Tarots, die im Film „Space is the Place“ ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, interpretiert werden. Die Mehrdeutigkeit solcher Wortspiele ist es, die Sun Ra fasziniert.
Um von der bloßen Darstellung wegzukommen und die Verkörperung zu erreichen, die Arche zu sein, bezahlen Sun Ra und seine Musiker einen hohen Preis: sie führen ein Leben in einer sektenartigen und vollkommen auf die Musik ausgerichteten Gemeinschaft abseits von Öffentlichkeit und Musikmarkt ohne viel Geld, in einer, wie Klaus Walter es ausdrückt „Dialektik von Freiheit und Disziplin“ und wirken dabei, wie in der filmischen Dokumentation „Sun Ra: A Joyjul Noise“ zu sehen ist, merkwürdig tiefenentspannt.
Und was sagt uns dieser Lebensentwurf heute? Weit davon entfernt, so vermessen zu sein, die Situation des Mittelstands im Deutschland der Gegenwart mit der Rassentrennung in den USA zu vergleichen, möchte ich doch abschließend das verehrte und privilegierte Publikum fragen: Fühlt ihr euch als Menschen? Glaubt ihr, dass ihr dazu gehört, zur Gesellschaft der Zukunft, wie sie für uns medial imaginiert wird? Fühlt ihr euch respektiert und zur Teilhabe eingeladen, einfach nur, weil es euch gibt? Öffnen sich für euch die Türen? Oder werden sie verschlossen, während man euch erzählt, dass, wer an der Gesellschaft teilhaben will, in Zukunft jeden Tag darum kämpfen muss?
Sun Ra sagt uns: Wir sind hier fremd. Wir werden nicht gebraucht. Machen wir etwas daraus. Schaffen wir etwas, das weder System noch Widerstand dagegen ist. Eigene Symbole, eigene Regeln, eigene Zusammenhänge, mit Freiheit und Disziplin. Ganz schön hohe Ansprüche, konzentriert durchgesetzt und in der eigenen Person inkorporiert, deshalb taugt Sun Ra so gut dazu, als Idealbild verehrt zu werden. Auch wenn dieser Ansatz in der konsequenten Nachahmung vermutlich einen heroisch – tragischen Verlauf nehmen würde und kaum jemand, der Redner eingeschlossen, bereit wäre, den hohen Preis dafür zu zahlen; es ist gut und richtig, Sun Ra´s Musik zu hören und zu wissen, was möglich ist, was Humanität bedeutet und was in der Abwesenheit von Unterdrückung geleistet werden kann. Dem können wir uns auch mit kleinen Schritten annähern. Daher möchte ich mich Sun Ra´s Worten anschließen und euch zurufen: „If you find earth boring, just the same old same thing, you better sign up with outerspaceways incorporated!“

Literaturliste:
Claus Walter: Musik für ein besseres Morgen. taz.de vom 15.05.2014. http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
Simon Frith, 1998. Performing Rites. On the value of popular music. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S. 274.

Der Vortrag als pdf-Datei:
Sun_Ra_und_die_Verkoerperung_des_Weltalls

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