Den Artikel „Auf der Suche nach einer anderen Art der Modernisierung“ habe ich mit der Frage beendet, ob sich die Ökonomie der open source Software auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen lässt. Diese Ãœberlegung hat in der werk.statt zu dem Entschluß geführt, ein Themenbarcamp über Kultur zu machen. Unter dem Titel +kultur wird es am 29. und 30. Januar in Osnabrück stattfinden.
Im Zuge der Vorbereitung unterhalte ich mich mit vielen Leuten über die open source Ökonomie. Zur Erinnerung, sie funktioniert so: im Zentrum des Geschehens befindet sich ein Wissenspool, der niemandem oder anders gesagt, der Allgemeinheit gehört und der unentgeldlich weiterentwickelt wird. An den Rändern dieses Pools siedeln sich Jobs an, mit denen die Beteiligten Geld verdienen können.
Eine interessante Frage ist, ob es bereits Kulturbereiche gibt, die zumindest teilweise nach open source Gesichtspunkten funktionieren. Es zeichnet sich ab, daß eine solche Art zu handeln für den Einzelnen Kulturtreibenden Alltag ist. Er oder sie beschäftigt sich aus innerer Überzeugung mit etwas, daß später eventuell auch mal Geld abwirft. Das betrifft nicht nur Künstler. Ein Beispiel: Seit ´zig Jahren veranstalte ich unkommerzielle Parties. An ihnen interessiert mich, ob sie Sinn machen und nicht, ob sie Geld abwerfen. Die Kenntnisse, die ich dabei erworben habe, kann ich nutzen, wenn mich beispielsweise das emaf engagiert, deren Nachtprogramm zu planen. Mein unbezahltes Engagement wirft einen bezahlten Job ab. Das ist aber nur informell, individuell, ergibt sich so. Dahinter steht kein Plan.
Einen ersten kulturellen Bereich, der auf einem kollektiven Wissenspool beruht, den alle benutzen dürfen, fand ich im Blues. Bluesmusik basiert im hohen Maße auf Formeln. Das betrifft das Bluesschema, aber darüber hinaus auch rhythmische, melodische und sprachliche Formeln, die in der Binnenstruktur verwendet werden. Jeder kennt die typischsten Bluesriffs und Textbausteine. „woke up this morning“ … „down the road I go“ … Wenn ein Bluesmusiker aus solchen Bausteinen einen neuen Song baut, ruft niemand: „Plagiat!“ Und wenn ein Musiker eine tolle neue melodische Wendung findet, dann wird sie Bestandteil des allgemein bekannten Formalrepertoires, vorausgesetzt, die anderen sehen das auch so und fangen an sie zu benutzen.
Natürlich ist der Blues auch Bestandteil der ganz normalen Verwertungszusammenhänge im Musikgeschäft. Aber das ist ja gerade das interessante, obwohl es Urheberrechte auf die einzelnen Lieder gibt, klagt niemand, wenn in ihnen enthaltene Elemente auch als tragende Bestandteile in anderen Stücken vorkommen.
Bei den Bluesstandarts handelt es sich um ein Allgemeingut weil die Urheber und damit deren Erben nicht genau zu ermitteln sind oder keinen Anschspruch auf Urheberschaft geltend machen und wohl auch, weil es zur Zeit der Entstehung kein Urheberrecht für kreative Leistung gab. Und das gilt wahrscheinlich für jede traditionelle Musik.
Wenn die ‚Module‘ dieser Musik heute zu neuem Liedgut zusammengesetzt werden und das ganze dann noch eine andere Bezeichnung bekommt, ist von OpenSource vermutlich nicht mehr viel übrig, sondern das copyright hat die Kontrolle übernommen. Wenn ich OpenSource richtig verstehe, ist das ja nicht Lizenzfrei, sondern Bearbeitungen (Veränderungen) müssen wiederum als OpenSource veröffentlicht werden. Heute könnte das dann bedeuten, daß zum Beispiel auch das Sampling nachfragefrei erlaubt sein müsste. Aber da machen die Musikverwerter wahrscheinlich nicht mit.
guter Artikel du greifst da ein paar interessante Fragen auf! Allerdings würde ich nicht sagen, dass Bluesmusik in hohem Maße auf Formel basiert, da viele Bluesmusiker eher nach Gefühl spielen anstatt sich an irgendwelchen Schemata zu orientieren.
@ +voodoo:
Urheberrecht gab es schon, grob gesagt seit dem 19. Jahrhundert auf gedruckte Noten, nur hatten schwarze Musiker wenig Interesse daran, ihre Stücke für 25 $ weißen Verlegern zu verkaufen. Ich will nicht verschweigen, daß sich viele Blues- und Jazzmusiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts weigerten, ihre Stücke an die Tin Pan Alley zu verkaufen, sie wollten ihre eigenen Stücke exklusiv spielen.
@ Peter:
Obwohl viele Musiker aus dem Bauch spielen, ist das Bluesschema heute das Standard Improvisationsschema. Dabei findet man nicht mal 50% der Bluesstücke, die es ohne Modifikation verwenden. Mir geht es aber noch um etwas anderes, nämlich um die Frage, wie ein bestimmtes Repertoire mündlich überliefert und weiterentwickelt wird. Ein Beispiel: Im Mittelalter musizierten in Europa Spielleute aus dem Stehgreif. Es gibt wenig Belege dafür, denn die Musik wurde eben nicht notiert, aber es zeichnet sich ab, daß sie sich aus einem Vorrat an Melodien und Rhythmen bedienten, der je nach Anlass und gerade vorhandener Besetzung benutzt und mit Texten versehen wurde. Wir wissen, daß die Imitatio, die Neuschöpfung von Texten zu bekannten Melodien ein grundlegendes Prinzip mittelalterlicher Kultur ist.
Beim Blues scheint ein ähnliches Modell vorzuliegen. Hier werden Texte über eine Struktur, die sich zunächst, beim country blues nur um einen einzigen Akkord dreht, gesungen und improvisiert. Hintergrund ist die westafrikanische Tradition des Griot, des fahrenden Sängers, der in den Dörfern aus dem Stehgreif Texte zu dort anliegenden Familiengeschichten und sozialen Lebensaspekten singt. An der Elfenbeinküste gibt es noch heute ein Sprichwort: Wenn Du es nicht sagen kannst, lass es einen Griot sagen.
Nach dem Ende der Sklaverei mussten die Sänger in den USA auf Wanderschaft gehen, spielten in den Städten und den workcamps. Ich weiß nicht warum, aber je mehr alte Stücke ich höre um so offensichtlicher wird ein gemeinsamer Fundus an grundlegenden Ideen, Textbausteinen und musikalischen Wendungen. Aber das aus dem Gefühl heraus spielen ist natürlich auch ganz wichtig, bei manchen Stücken ist gar keine feste Form erkennbar, sie wird so gestaltet, wie es der Fluß von Text oder Improvisation gerade erfordet. Manche sagen, zum Standardbluesschema kam es nur durch standardisierte Produktionsbedingungen während der Weltwirtschaftskrise in Chicago. Die Plattenfirmen gingen nicht mehr raus zu den Musikern, sondern sie mussten alle in dasselbe Studio kommen und mit derselben backing band spielen. Da kann man wirklich den Blues kriegen …