Bei den Auftritten von Ansage 1, als ich mit dem Sauer Techno DJen und Texte für die Tanzfläche machte, fiel mir zum ersten Mal Kurt Tucholsky positiv auf. Der Sauer trug einen Texte von ihm vor, „Ideal und Wirklichkeit“ und noch einen von seinem Zeitgenossen Erich Kästner, „Zeitgenossen haufenweise“. Mit dem wunderschönen Beginn:
„Es ist nicht leicht, sie ohne Haß zu schildern,
und ganz unmöglich geht es ohne Hohn.
Sie haben Köpfe wie auf Abziehbildern
und, wo das Herz sein müßte, Telefon.“
Inzwischen lese ich Tucholsky – Texte, stelle fest, er hat viele Chansons und bissige Satiren geschrieben und seine Gedichte eignen sich gut zum Vertonen. Und das Wichtigste: An ihm und seinen Zeitgenossen zeigt sich, wer die Gegenwart verstehen will, soll sich ruhig mal mit Berlin in den Zwanziger Jahren beschäftigen. Hier bildet sich das moderne Dreieck von Masse, medial vermittelter Kommunikation und Konsum. Zeitungen sind aller Leute täglich Brot, Sport wird als Showereignis entwickelt, das Telefon verbreitet, das Proetariat wird ausgebeutet, manche steigen steil und werden reich. Der Fabrikant tritt als Sponsor auf. Es entsteht eine Mittelschicht selbständig lebender Individuen, Singles mit zeitweisen Beziehungen, Angestellte, Sekretärinnen. Was unsere Gegenwart ausmacht, es ist vieles schon da.
…und gleich wieder bedroht von fanatischen Gespenstern, Schreihälsen mit totalitären Visionen, von Wirtschaftskrisen und Kriegstreibern. Klingt bekannt? Und wie ist es mit dem alten, unbedingten Respekt vor staatlichen Institutionen und Uniformen? Heute überwunden oder bloß weiter nach hinten, hinter den Vorhang gepackt, aber immer noch mächtig und präsent? Die Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten, aufgrund der Erfahrungen in der Weimarer Republik in unserer Verfassung verankert, sie wird grad wieder hintertrieben, von unseren obersten Revolutionären, Schäuble geht voran, und dafür wurde ihnen der diesjährige Big Brother Award verliehen. Ich finde, das reicht nicht, für die Marschrichtung sollten sie den Premium Big Brother Award in Platin mit Bonuskarte bekommen.
Ich schweife ab. David sagt: „Ärgere Dich nicht über solche, die Böses tun. … Schnell wie Gras werden sie verwelken.“ (Psalm 37.1) Apropos Opium für´s Volk: Afghanistan hat seinen internationalen Marktanteil an Rohopium seit der amerikanischen Invasion von 70 auf 90% steigern können. Doch weiter im Text:
Tucholsky´s Beschriebungen sind so frisch, daß ich bei manchen glauben mag, sie sind erst heute geschrieben. Sie beziehen sich in den Details auf Moden längst vergangen, ersetze diese durch beliebige jetzige Erscheinungen und voila, Du hast einen aktuellen Text. 1935 ist Tucholsky gestorben, d.h. im letzten Jahr sind seine Texte Bestandteil der public domain geworden, eine Verwendung und Bearbeitung ist also ohne Lizenzzahlungen und Freigaben von Rechteinhabern möglich. Viele Texte findet man online in einem privaten Tucholsky – Archiv, auch ist die Tucholsky – Gesellschaft online. Bei Erich Kästner es ist schon schwieriger. Er starb 1975, seine Texte sind also noch bis 2050 urheberrechtlich geschützt. Seinen oben zitierten Text findet man nur auf Seiten, die noch nicht aufgefallen sind und eine einseitig tolerante Beziehung zum copyright führen, z.B. hier.